Sei offen und neugierig

„Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, aber im Geist des Experten gibt es nur wenige.“

Suzuki Roshi

Allzu oft lassen wir zu, dass unser Denken und unser Glaube an das, was wir wissen, was wir kennen, uns daran hindert, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Wir neigen dazu, das Gewöhnliche als selbstverständlich zu sehen und das Außergewöhnliche des Gewohnten nicht zu erfassen. In bestimmten Situationen ist dies sicher wichtig und richtig, aber häufig verpassen wir dadurch viele spannende, schöne, interessante Dinge im Erwachsenenleben. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Alltag: Sind wir auf Reisen, dann nehmen wir die Fremde sehr intensiv wahr. An unserem Wohnort hingegen fällt es uns oft schwer schönes zu sehen und zu schätzen, weil wir gar nicht mehr genau hinsehen. Wir meinen alles bereits zu kennen. Jedoch hören wir auf zu lernen, wenn wir denken, dass wir alles wissen.

Vergangenes Wissen und Vorurteile können das Urteilsvermögen trüben und uns daran hindern, eine vertraute Situation klar zu sehen. Wenn dies immer wieder geschieht, kann dies dazu führen, dass man sich festgefahren oder in einem Trott fühlt. Situationen, die einst wunderbar waren, werden nun schal. Je mehr wir erleben, desto weniger Wunder werden wir finden können, da alles seinen Glanz verliert. Selbst wenn wir Expert:innen auf einem Gebiet oder in einer Situation sind, kann es immer schwieriger werden, Lösungen für neu auftretende Probleme zu finden.

Jeder Augenblick ist immer wieder anders, immer wieder neu. Und immer kostbar, weil er so nie wiederkehrt.

Welch neuer Reichtum für das Leben.

Um den Reichtum des gegenwärtigen Augenblicks zu erkennen, müssen wir einen Geist kultivieren, der bereit ist, alles so zu sehen, als wäre es das erste Mal. Beginner’s Mind, oder der Geist des Anfängers/Anfängergeist ist ein Konzept aus dem Zen-Buddhismus, bei dem es darum geht, Offenheit und Neugierde in unsere Erfahrungen einzubringen, anstatt sich auf eine Vielzahl vorgefasster Ideen zu stützen. Dabei geht es darum dem Leben mit einer Haltung der Offenheit zu begegnen, die Welt frei von Vorurteilen zu betrachten, als ob man sie zum ersten Mal sehen würde. Wir nehmen quasi jedes Mal den Geist des Anfängers oder eines Kindes an, wenn wir etwas das erste Mal erleben. Im Geist des Anfängers gibt es den Gedanken „Ich habe etwas erlangt“ nicht. Wenn wir keinen Gedanken an Leistung, keinen Gedanken an uns selbst haben, sind wir wahre Anfänger. Dann können wir wirklich etwas lernen. Der Geist des Anfängers ist der Geist des Mitgefühls. Wenn unser Geist mitfühlend ist, ist er grenzenlos. Der klare Vorteil dieser Haltung ist, dass sie uns mehr Freiheit gibt, wie wir auf Ereignisse reagieren. Der Reichtum der gegenwärtigen Erfahrung ist der Reichtum des Lebens selbst.

Vorteile des Beginner’s Mind

Wenn wir den Anfängergeist kultivieren, können wir ein Problem mit mehr Kreativität und einer frischeren Perspektive angehen. Weil wir alte Situationen aus einem neuen Blickwinkel betrachten, können wir uns aus der Sackgasse befreien und dadurch etwas Neues erleben. Wir können uns spielerisch mit Themen und Situationen auseinandersetzen, die mit der Zeit abgestanden sind. Sogar die Themen oder Situationen, über die wir am meisten wissen, haben in der Regel etwas, für das wir uns neu begeistern können. Der Verstand eines Anfängers hilft uns, diese neuen und aufregenden Erfahrungen zu machen. Ein Anfängergeist hilft uns auch, eine tiefere Dankbarkeit zu entwickeln und uns von Erwartungen an vergangene Erfahrungen zu befreien. Wenn wir nichts Bestimmtes mehr erwarten, ist jedes Ergebnis etwas, wofür wir dankbar sein können. Dies kann uns helfen, Gefühle der Enttäuschung zu vermeiden, da wir vergangene Erfahrungen nicht mehr als Maßstab für die Beurteilung dessen verwenden, was jetzt geschieht. Und schließlich kann die Einstellung eines Anfängers dazu beitragen, dass wir ein:e noch größere:r Expert:in in einem bestimmten Bereich werden. Denn wenn wir uns bemühen, eine Situation mit neuen Augen zu betrachten, können wir neue Wege zur Problemlösung finden. Dadurch wird unser Wissen noch reichhaltiger und facettenreicher.

Eine entspanntere und positivere Einstellung zu entwickeln, hat auch mehrere gesundheitliche Vorteile, darunter eine niedrigere Sterblichkeitsrate. Auf diese Weise können wir nicht nur ein glücklicheres, sondern auch ein längeres Leben führen.

Tipps für einen Anfängergeist

  1. Ja, Nein, Vielleicht
    Wenn du über etwas nachdenkst, versuche, den Standpunkt „Ja, Nein, Vielleicht“ einzunehmen, anstatt dich direkt nur für eine Perspektive zu entscheiden, die du sonst immer wählen würdest. Hier gilt es, nicht wischiwaschi zu sein, sondern zu bedenken, dass nur wenige Dinge im Leben schwarz und weiß sind. Das Universum besteht im Grunde aus allen Grautönen.
  2. Das Tempo herausnehmen
    Wenn man weiß, wie etwas geht, schaltet man leicht auf Autopilot. Anstatt die Dinge automatisch auszuführen, nimm dir Zeit, um jeden Aspekt der Aufgabe neu zu entdecken. Sei dir bewusst, was du tust und was du erlebst. Handle mit Absicht und sei während der gesamten Erfahrung im gegenwärtigen Moment. Wenn du dich dabei ertappst, wie du dich auf eine bestimmte Art und Weise verhältst, versuche beim nächsten Mal einen anderen Ansatz. Man weiß nie, was man entdecken könnte.
  3. Erlebe die Welt durch die Augen eines Kindes
    Die große Naturforscherin Rachel Carson sagte in ihrem Buch The Sense of Wonder: „Die Welt eines Kindes ist frisch und neu und schön, voller Wunder und Aufregung. Es ist unser Pech, dass die meisten von uns diesen klaren Blick, diesen wahren Instinkt für das Schöne und Ehrfurcht gebietende, verlieren, bevor wir erwachsen sind. Wenn ich Einfluss auf die gute Fee hätte, die angeblich über alle Kinder wacht, würde ich darum bitten, dass sie jedem Kind auf der Welt einen Sinn für das Wunderbare schenkt, der so unzerstörbar ist, dass er das ganze Leben lang anhält.“
  4. Meditation
    Meditation ist ein großartiges Mittel, um sich mit diesem neuen Zustand des Bewusstseins zu verbinden. Schließe deine Augen und lenke dein Bewusstsein auf deinen Atem, so als würdest du das erste Mal atmen.
  5. Streiche das Wort „sollte“ aus deinem Wortschatz
    Was passieren „sollte“, basiert auf deinen vorgefassten Meinungen und Erwartungen. Wenn du sagst, dass etwas auf eine bestimmte Weise geschehen „sollte“, bist du an das Ergebnis gebunden.

Der Anfängergeist im Yoga

Im Yoga wird uns oft gesagt, dass wir uns den Posen mit dem Geist des Anfängers nähern sollen – wir sollen die Weite suchen oder die Nuancen finden, die uns erlauben, mehr über eine Pose und unsere Beziehung zu ihr zu entdecken. Wie jede andere Person verliere auch ich mich oft darin, mich voll und ganz auf den Flow zu konzentrieren, eine Pose zu erreichen oder im Savasana zu sein. In diesen Momenten geht es dann beim Yoga weniger um im Hier und Jetzt zu sein sondern mehr um Gymnastik. Wenn wir unser Abschweifen in diesen Momenten erkennen, können wir zum Anfängergeist zurückkehren.

Versuche doch in deiner nächsten Yogapraxis die Asanas so auszuführen, als hättest du sie noch nie ausgeführt. Spüre in deinen Körper hinein, wie die Pose sich anfühlt, wie sie sich dein Körper anfühlt. Gib jeder Yogastunde die Chance, sich anders anfühlen zu lassen.

Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen, sondern darin, Altes mit neuen Augen zu sehen!

Marcel Proust

Der Verstand des Anfängers ist, wie alles andere auch, eine Entscheidung. Wenn wir uns entscheiden, unsere vorschnellen Annahmen zu verwerfen, können wir eine Weite finden, von der wir nicht wussten, dass sie existiert. Deshalb bleibe offen und neugierig und schaue hin und wieder mal links und nach rechts ☺️.

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